Home Rundbrief alte Ausgaben Jahrgang 2009 Filmerzählungen und Zustandsberichte
Filmerzählungen und Zustandsberichte PDF Drucken E-Mail
HBK beim 23. Int. Filmfest Braunschweig

hbk01Nicht ohne Stolz erwähnte Michel Brynntrup, Leiter der Filmklasse an der HBK (Hochschule für Bildende Künste) Braunschweig, bei der Anmoderation des diesjährigen Programms der Filmklasse, dass längst nicht alle Beiträge diesmal hätten aufgenommen werden können. Es seien zu viele gewesen.
Allein die vier Diplomarbeiten ergäben ein eigenes Programm. Man werde es demnächst im (neu eröffneten) Universum zeigen (und ich denke, wir werden im Rundbrief darüber berichten). Zu sehen waren also auf dem 23. Inter. Filmfest Braunschweig in diesem Jahr ›nur‹ Schülerarbeiten.
Doch wie schon in den vergangenen Jahren präsentierte sich mit den 11 Beiträgen wieder eine Vielzahl von Talenten, die sehr unterschiedliche Ansätze verfolgten, getreu dem Motto, dass jede (jeder) nach ihrem (seinem) Gusto (Vorliebe, Intension, Obsession) und nicht nach schulischer Vorgabe verfahren kann und soll.
Dabei geht es vorrangig darum, sich der Mittel des Experimentalfilms zu bedienen (nicht sie neu zu erfinden), sie zu nutzen, um den eigenen persönlichen Ausdruck, die dem Thema angemessene Form zu finden. Und man kann sagen, dass dies erstaunlich gut gelungen ist.
Im Schnitt, so will mir scheinen, zeichnen sich die Arbeiten in diesem Jahr durch eine bemerkenswerte Lockerheit, Unverkrampftheit aus. Vielleicht deshalb, weil die Autorinnen und Autoren sich in der Wahl ihrer Mittel beschränkten, sie sicher und mit Selbstverständlichkeit zu handhaben wussten, Einfachheit anstrebten, anstatt das ganze Arsenal der Möglichkeiten zu bemühen. Auch war ein spielerischer Ansatz in den Beiträgen nicht zu verkennen. Was der Ernsthaftigkeit im Einzelnen nicht Abbruch tut, aber sie zugänglicher, unterhaltsamer macht.

hbk02Wovon sich zu erzählen lohnt
Arne Strackholder bedient sich der Mittel des Dokumentarfilms in puente de la morena, dem mit 27 Minuten längsten Film dieses Programms. Er porträtiert drei Obdachlose in Mexico City, fast noch Straßenkinder, Männer, kaum über zwanzig, wo sie leben (mit ihren Lumpen auf der Straße, trotzdem hat jeder von ihnen ein Kuscheltier) und was sie arbeiten: Der Eine putzt Autoscheiben, der Andere verkauft Sonnenbrillen, der Dritte legt sich als Fakir auf Glasscheiben, die er sich zuvor aus Flaschen klein geklopft hat. Das geschieht an verkehrsreichen Straßen, an Ampeln, in der kurzen Phase bei Rot.
So finden sie ihr ziemlich bescheidenes Auskommen. Allgegenwärtig ist das Rauschen des Verkehrs, selbst in den Phasen, in denen die Protagonisten von sich erzählen, so dass man sie kaum versteht – möglicherweise ein technisches Problem, hier aber umfunktioniert zu einer ästhetischen Tugend. Die Kamera heftet sich an die Fersen der jungen Männer, interessiert sich lebhaft für Details, bewahrt aber trotzdem immer Distanz, lässt ihnen die Würde und bestätigt sie in ihrem vorsichtigen oder auch prekären Optimismus.
Die halbnahe Aufnahme einer jungen Chinesin, die frontal in die Kamera blickt und singt, eine einzige Einstellung nur: Liebeslied von Lisa Seebach (2 Min). Unwichtig, ob es sich tatsächlich um eine Liebeslied handelt: Der Text ist unsereinem unverständlich. Wichtig hingegen, dass eine zweite dunklere leisere Stimme das Lied mitsingt, sozusagen als der Schatten der ersten, dass sie sich dann aber vorwagt, die erste Stimme verstummt und das Lied in einem fürchterlichen Krächzen endet. Nur ein Joke? Ratlosigkeit zu erzeugen die Absicht der Autorin? Man könnte auch Vermutungen anstellen, tiefere Bedeutung suchen – wie immer, wenn ein Ende offen ist.
Ganz und gar nicht offen ist das Ende des Films One, Two, Three von Mira Amadea Breuer (17 Min). In der Schlusseinstellung sieht man ein Haarteil auf den Boden fallen (das Ende vom Lied auch hier, im übertragenen Sinne allerdings) und aus dem Off hört man die Stimme der Protagonistin: ›und alles, was bleibt, ist eine wunderbare Erfahrung und dieser Film‹.
Auch hier handelt es sich um einen Dokumentarfilm, der sich allerdings eigenwilliger gestalterischer Mittel bedient, sich vom Gegenstand, den er dokumentiert, fortentwickelt, sich quasi verselbständigt, eigene Weg geht und trotzdem den Bezug zum Sujet niemals aus den Augen lässt. Der Film ist oder gibt sich als Videotagebuch: Eine Frau, zweifellos die Filmemacherin selbst, will es im irischen Folkloretanz bis zur Weltmeisterschaft bringen und probt und probt unaufhörlich diesem in drei Monaten stattfindenden Ereignis entgegen. Ehrgeiz und Selbstzweifel sind die bestimmenden Akzente.
Wie im Film von Strackholder wechseln in die Kamera gesprochene Passagen, in denen die Protagonistin ihr Befinden schildert, mit Sequenzen ab, die sie in ihrem gegenwärtigen außergewöhnlichen Alltag und bei der Probe zeigen (und ihr tänzerisches Können bezeugen). Es sind dies äußerst komplex gefilmte, geschnittene und montierte Sequenzen, die nur eine vage Chronologie ergeben, vielmehr sind sie vor allem virtuose Bildgestaltung und Rhythmus.
Die bisher vorgestellten Filme lassen sich als nichtkonventionelle Filmerzählungen bezeichnen. Zu dieser Kategorie gehört auch C’est dur, très dur – Zivilisation von Sabine Janz (12 Min), die Beschreibung eines eher monotonen, aber in ruhigen, poetischen Bildern festgehaltenen Alltags, in denen Ereignislosigkeit und Einsamkeit in einer modernen Umgebung zum Ausdruck kommen. hbk03
Elf Einstellungen, stets mit starrer Kamera (nur in der ersten zusätzlich ein Zoom rückwärts), sind völlig hinreichend, die Situation zu umreißen. Dazu ein O-Ton, der nur die Geräusche wiedergibt. Zunächst eine Straßenszene, viele Passanten, im Vordergrund unterhalten sich zwei Polizisten. Dann ein Waschsalon: Eine Frau (die Filmemacherin?) stopft Wäsche in die Maschine. Blick von oben: sie füllt Waschmittel ein. Viertens eine Plane, nah, die vielleicht ein Gebäude verhüllt, Geräusche des Windes im Mikro, ferne Kinderstimmen.
Dann eine Tanzschule: irgendwie trist. Wieder im Waschsalon: Das Auge der Maschine, wie die Wäsche sich dreht, Lichtreflexe. Im Zug: Geräusche des Triebwagens, die Fensterscheibe voller Regentropfen. Dann: Rolltreppen in einem großen Bahnhof, gegenläufige Bewegungen. Nur vereinzelt Menschen. Neues Tableau: Eine Kreuzung, viel Verkehr, Müllsäcke in Vordergrund, und eine Person isst einen Apfel. Im elften Bild kulminiert die Erzählung: Die Wand: eine schier unendliche Anzahl gleicher Briefkästen oder -fächer. Die Frau erscheint, öffnet eines der Fächer, es ist leer. Sie geht.

Gedankenblitze
Heute – morgen – gestern von Joachim Ruhe (9 Min). Auch hier nur O-Ton, keine Sprache, nur Geräusche. Sie deuten auf ein Tun hin (Kleinholz spalten?), jedoch sind sie nicht dem Bild synchron, sie schweben gewissermaßen unfassbar im Raum. Dieser Raum ist eine Wohnung und die Kamera zeigt sie ganz konkret, indem sie durch sie hindurch wandert, Zimmer für Zimmer, sich die Wände entlang tastet, sie abtastend, neugierig auf alles, was es in diesen Räumen gibt und was der, der hier wohnt, gerade in ihnen tut.
Man sieht ihn (den Filmemacher selbst?) beim Zähneputzen, in der Küche, beim Holzhacken vorm Ofen, es gibt eine Werkstatt, ein Bauer P 7 ist zu sehen und ein Fahrrad, und auch ein Musikzimmer, und es scheint – wie heute, morgen und gestern ununterscheidbar ineinander fließen –, dass auch der Raum nur ein einziges Zeitloses ist, ein Zugleich verschiedener Handlungen, jedenfalls ist die Bewegung der Kamera durch den Raum fließend, kontinuierlich und kein Schnitt, kein Licht- oder Zeitsprung sind zu erkennen.
Natürlich erzählen auch die eher formalen Arbeiten (wie die von Ruhe) etwas, doch sind sie eher Zustandsbeschreibung, Reflexion als Erzählung. So auch One 103 happy: 83 sad Minute and thirty Seconds von Per Olaf Schmidt (2 Min). Aus dem Off hört man eine männliche Stimme, die 103 mal ›happy‹ und 83 mal ›sad‹ sagt (man könnte es vielleicht nachzählen, doch man glaubt es lieber), dazu blitzen zwischen Schwarzfilm vermutlich 186 mal Einzeloder Nahezu-Einzelbilder auf mit durchaus konkreten Inhalten, die man freilich nur schemenhaft erkennt, nicht nur wegen der Kürze ihres Erscheinens, sondern weil sie zusätzlich wie durch eine matte Glasscheibe gefilmt, also unscharf sind.
Ein Film im Flickerrhythmus. Scherz und Ironie ganz gewiss. Inwieweit aber auch tiefere Bedeutung mitschwingt, bleibe dahingestellt.
Ähnlich Wanda Dubrau in In Time (4 Min). Zunächst kaum erkennbar bewegt sich etwas hinter einer Milchglasscheibe: ein Auge, ein Wimpernschlag, wie sich herausstellt. Dann eine Frau, frontal zur Kamera. Dann im Profil, und sie steht sich selbst gegenüber. Die beiden Frauen, die dieselbe sind, verbeugen sich zueinander, so dass ihre Köpfe sich überschneiden. Das Bild gefriert. hbk04
Nach einem Moment Schwarzfilm taucht es als Detail der Köpfe wieder auf, schwindet, taucht wieder auf, wobei die Köpfe immer näher herangerückt und gleichzeitig gröber und unkenntlicher werden, bis sie ins Weiße verschwimmen und nur noch ein weißes Flickern übrig bleibt. Der gesamte Vorgang wird dann noch einmal wiederholt, das Ganze unterlegt mit einem sphärisch anmutenden Klang.
Aus zwei höchst unterschiedlichen Kapiteln besteht der Film von Enrico Viets: Brüder und Schwestern – ein Gedenken (4 Min). Zunächst ein Blick von schräg oben auf Straßenpassanten, schwarzweiß, ohne besonderen Zugriff, eher en passant. Dazu aus dem Off eine Stimme: Sie macht sich Gedanken über Gedanken, stellt beispielsweise fest, dass Gedanken, wenn sie nicht aufgeschrieben werden, für immer verloren sind: Sie landen auf dem Gedankenfriedhof. Die Gedanken werden als Satzgefüge eingeblendet wie Untertitel.
Harter Schnitt, Farbe: Abstrakte Muster in ständiger, aber unauffälliger Bewegung, wahrscheinlich computergeneriert, werden staccato unterbrochen, erscheinen sofort neu, in neuer, aber ähnlicher Konstellation – im Hintergrund ein Gitter aus farbigen Lichtsträhnen, überlagert von nichtgeometrischen Strahlenbündeln, die wie um ein Zentrum zu rotieren scheinen.
Unwillkürlich denkt man an Astronomisches, auch Gedankenströme ließen sich, vermutet man, so visualisieren. Das Merkwürdige an diesem Film: Dass sich die beiden gegensätzlichen Teile trotzdem wie ein Ganzes lesen lassen, etwa in dem Sinne wie Einleitung und Ausführung.
Ausschließlich mit Schriftzügen arbeitet Stef Füldner in Mauvaise foi (5 Min). Im Rolltitelverfahren schieben sich von unten nach oben Sätze ins Bild. Meist sind gleichzeitig drei sichtbar, aber nur der mittlere ist lesbar, die beiden anderen verschwimmen. Der lesbare Satz erklingt gleichzeitig aus dem Off. Die Sprache ist englisch. Es sind unterschiedliche Stimmen, aber alle original aus irgendwelchen Filmen oder öffentlichen Reden.
Es entsteht ein Klangteppich, gleichzeitig ein Bedeutungsgeflecht aus sich ergänzenden, oft auch einander widersprechenden Sätzen und Satzfetzen, in denen sich Gegenwart ebenso spiegelt wie zeitlose Gültigkeit. Die Logik kann freilich nicht folgen, die Aufeinanderfolge der Mitteilungen gleicht eher einem diffusen unterbewussten Bewusstseinsstrom.

hbk05Zurück in die Kindheit
Noch einmal zurück zu den Erzählungen. Zu zweien, die so etwas wie Kindheitserinnerung beschwören. Estelle Belz’ Schwarzweißfilm La Dame blanche entführt in die zauberhafte Landschaft der Auvergne, in deren Wäldern, so die Auskunft des Films, die weiße Frau spukt. Man sieht sie indes nicht. Natürlich nicht.
Die Kamera zeigt uns vor allem diesen Wald, eine Hand reckt Himbeeren der Kamera entgegen, Kinder laufen durchs Bild, ein altes Steinhaus, typisch für diese Landschaft, eine Tür, steinerne Mauern, ein Kreuz aus rostigem Metall – ständig ist die Kamera in Bewegung, huscht herum, als suche sie nach etwas oder als wolle sie etwas magisch beschwören.
Das gelingt ihr aber nur dank der Musik, die gewissermaßen die Vorgabe macht. Sie stammt von John Cage, aus Extract of Bachanals und Prepares Piano, und ganz offensichtlich sind die Bilder im Bezug zur Musik ausgesucht und geschnitten worden. Aber nicht im Sinne einer Interpretation. Denn die Musik wurde gleichzeitig mit Beschlag belegt, umgebogen zu etwas, das für die Filmemacherin steht und für ihre kleine versponnene Geschichte.
›23. 8. 94, 20:34‹. Ein Kind steht auf einer Düne, hinter ihm das Meer, Abendstimmung, schwarzweiß. Das Kind macht Verrenkungen aller Art für eine Kamera, und eine männliche Stimme ermuntert es dazu: ›Schön machst du das, ja, gut so‹. So beginnt Jugendliebe von Sandy Scholze (4 Min). Das Kind dürfte nun knapp über zwanzig sein und Sandy Scholze heißen, und mit ihrem Film blickt sie zurück in ihre Kindheit. Jetzt erst kommt der Titel, es folgt der zweite Teil der Erinnerung.
Ähnlich wie in Viets’ Film kontrastieren hier zwei Elemente und fügen sich doch zusammen und wie dort sind sie auch hier aufeinander bezogen wie Einführung und Hauptteil, aber gleichzeitig doch auch die zwei Seiten ein und derselben Medaille, hier der Jugendliebe. Die galt (und gilt?) dem Filmen und den Pferden.
Davon handelt der zweite Teil. Ein breiter schwarzer Rahmen fokussiert den Blick auf die Leinwandmitte, wo in einem rechteckigen ›Fenster‹ Filmausschnitte zu sehen sind. Sie zeigen galoppierende Pferde mit und ohne Reiterin in einer Landschaft, wie sie für Western typisch ist.
Der Nachspann verrät auch die Herkunft der Zitate: ›The Black Stallion‹ von 1979, ›Black Beauty‹ von 1972, ›The White Horse‹ von 1968. Aus letzterem stammt auch das beschwingte Lied, das Jackie Lee singt, ein Ohrwurm, ein Kinderlied.
Also auch dies eine kleine geschlossene, leicht wehmütige, wohl auch ironische Filmerzählung.

Willi Karow

Bild 1: Puente de la Morena von Arne Strackholder
Bild 2: Liebeslied von Lisa Seebacher
Bild 3: C'est dur, très dur - Zivilisation von Sabine Janz
Bild 4: Brüder und Schwestern - ein Gedenken von Enrico Viets
Bild 5: Jugendliebe von Sandy Scholze

Zuletzt aktualisiert am Mittwoch, den 24. Februar 2010 um 12:07 Uhr