Home Rundbrief alte Ausgaben Jahrgang 2011 Reiseerlebnis Irak: Für Fische sind Seen Inseln
Reiseerlebnis Irak: Für Fische sind Seen Inseln PDF Drucken E-Mail
›Für Fische sind Seen Inseln‹ Reise zu dem, was von den Marshlands blieb
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Anne Verhoijsen, Sam Simons, Bootsführer. Foto: Thomas Bartels


Anne Verhoijsen ist Künstlerin. Sie hat einen Film gedreht, Visions Of Paradise, in dem Menschen aus aller Welt erzählen, was für sie das Paradies ist. Seither will Anne dorthin, wo das biblische Paradies vielleicht einmal war: Im Zweistromland, zwischen Euphrat und Tigris, im Iraq.
Ahmed Faraj ist im Iraq geboren. Seit 30 Jahren lebt er in den Niederlanden, ist Geschäftsmann und hat einen Traum: Im Süden des Iraq, in den Marshlands, möchte er den Menschen zu einem modernen Leben verhelfen. Angesichts der Wohnraum- Knappheit will er dort statt der mühsam zu bauenden Lehm- und Backsteinhäuser zügig zeitgemäße Häuser errichten, ausgestattet mit Sonnenkollektoren für warmes Wasser und mit biologischen Toiletten.
Albert Veermann stellt diese Häuser her. ›Pre-fab‹-Häuser aus vorgefertigten Elementen: Ein Stahlgerippe, in das Blöcke aus Styropor eingesetzt, mit einem Kunststoffnetz überzogen und verputzt werden. Ein trainiertes Team kann solch ein Haus in einer Woche fertigstellen, inklusive Wasserund Stromleitungen, Doppelfenstern, Türen und einem roten Spitzdach.
Albert will mit einigen Helfern ein Musterhaus im Iraq bauen. Ahmed kontaktiert ortsansässige Bauunternehmer und Interessenten. Anne kennt Ahmed. Sie erfährt von seinen Plänen und will sich der Gruppe anschließen. Sie lädt mich ein, als Kameramann mitzureisen und Sam Simons als Tonmann. Im Spannungsfeld zwischen traditioneller Lehmarchitektur und Pre-fab-Häusern wollen wir Bilder und Aussagen aus dem aktuellen Iraq sammeln. Schnell überschlagen sich die Gedanken: Gefährlich wird es wohl nicht werden. Unser Ziel ist Al Amarah, 80 Kilometer nördlich von Basrah. Eine ruhige Stadt, die nie in den Nachrichten auftaucht. Flug nach Kuwait, nicht über das gefährliche Pflaster Baghdads. Der Provinzgouverneur übernimmt unseren Schutz.

Styropor statt Lehm
Doch das Projekt, an das wir uns anhängen, schafft Bedenken. Statt der lokalen, über sehr lange Zeit erprobten Materialien und Handwerkstechniken plötzlich Styropor. Kein schönes Material. Sofort stelle ich mir die weißen Krümel und Brocken vor, die in Massen durch die Wüste wehen oder auf den Marshes treiben. Reste der Bauarbeiten von 50.000 anvisierten Häusern, Einfamilienhaus-Siedlungen im westlichen Stil, Fremdkörper in der lokalen Architektur und Ästhetik.
In der Vorbereitungsphase trifft unser Filmteam einen Spezialisten, der seit vielen Jahren holländischen Firmen hilft, aus gescheiterten Unternehmungen in Entwicklungsländern halbwegs heile herauszukommen. Für ihn ist das Styroporhaus- Projekt ein klarer Fall von ›forced development‹, das scheitern muß. Ein Konzept wird von außen herangeschafft und wegen seiner ›modernen‹, ›westlichen‹ oder ›perfekten‹ Form begeistert aufgenommen. Die lokalen alltäglichen Gewohnheiten und Ansprüche passen jedoch nicht in diese Form hinein. Selten gelingen Synthesen. Aber das Haus ist nicht unser Projekt. Eher ist es unser Trojanisches Pferd, denn es gibt zur Zeit kaum Möglichkeiten, ein Visum für den Iraq zu bekommen. Ausnahmen sind Geschäftsreisen: alles was mit business und investment zusammenhängt ist gut für das Land.

Lebensraum ausgetrocknet Unser Schutz. Foto: Anne VerhoijsenAnne hatte Kontakt aufgenommen zu Mr. Marsoomi in Al Amarah. Er leitet die Gesellschaft zur Restaurierung und Entwicklung der Marshlands. Die Marshlands müssen etwas unglaublich Schönes gewesen sein, eine riesige Wasserfläche in der heißen Wüste. Unzählige Vogelarten, Fische, Wasserbüffel, Schilfdickichte. Die Menschen lebten in Häusern, deren Wände aus diesem Schilf geflochten und mit Lehm verkleidet wurden oder die komplett aus Schilf bestanden. Manche Häuser schwammen auf künstlichen Inseln, die ebenfalls aus Schilf geflochten waren. Ein einziges Bild davon kursiert im Internet, es illustrierte auch einen ›Spiegel‹-Artikel im August 2010.
Dieses schwimmende Dorf existiert nicht mehr. Auch von den Marshlands existiert nicht mehr viel. Vielleicht noch ein Zehntel. Die Bewohner, Marsh-Arabs, opponierten gegen Saddam Hussein. Er bestrafte sie, indem er ihren Lebensraum austrocknete. Dämme wurden gebaut und Gräben gezogen. Das Wasser lief ab. Auch jetzt, wo die Dämme teilweise zerstört sind, fehlt das Wasser, da Euphrat und Tigris bereits weiter oben, in Syrien und in der Türkei aufgestaut werden.
Aber Fragmente der Marshes gibt es noch, verstreut in der Wüste: ›Für Fische sind Seen Inseln‹ schreibt Arno Schmidt. Dort wollen wir hin: Zu den Inseln der Wüste. Wir wollen mit den langen schlanken Booten fahren, die wir auf Fotos gesehen haben. Fischer treffen, sehen wie sie leben, erfahren, wie man in den Lehmhäusern lebt und ob ein Styroporhaus nicht vielleicht tatsächlich ein notwendiger Fortschritt ist.
Vielleicht ist unsere spontane Ablehnung moderner Baustoffe eine arrogante Haltung, die wir uns - komfortabel behaust - leisten können, während wir die Marsh- Arabs in einer pittoresken Vergangenheit konservieren wollen? Wir wollen wissen, was die Frauen darüber denken und was die Männer. Wie die Kinder in die Schule kommen. ›I know exactly what you mean‹, wird Mr. Gazan später zu uns sagen, ›you want to see daily routine‹.
Und Anne hat noch einen Plan: sie möchte ein Mudhif nach Holland holen. Mudhifs sind spezielle Häuser, von denen es in jedem Dorf eins gibt. Es sind Gästehäuser und Orte an denen Neuigkeiten ausgetauscht und Streitigkeiten geschlichtet werden. Ein Mudhif sieht aus wie ein umgekehrter Schiffsrumpf. Baumdicke Bündel aus Schilf werden senkrecht im Boden verankert und paarweise oben zu Bögen verbunden. Eine stets ungerade Anzahl dieser Bögen bildet einen Tunnel, der mit Schilfmatten bedeckt ist, seine Länge variiert je nach Größe der Ortschaft. Im Austausch zum Holländischen Wohnhaus, dessen Montage wir begleiten, wollen wir ein solches Mudhif nach Europa bringen mitsamt seiner Funktion, Gäste zu empfangen und Geschichten auszutauschen. Andere Geschichten aus dem Iraq könnten dort erzählt werden als die von Kämpfen und Zerstörung.
Das alles hat Anne lange im Vorfeld unserer Reise mit Mr. Marsoomi besprochen. Per skype und in e-mails. Er hat Bilder geschickt und eine Karte, auf der die Marshes früher und heute eingezeichnet sind. Und er hat Anne nach ihrer Konfektionsgröße gefragt, um ihr passende Kleidung zu kaufen.

›This is an oral culture‹Mudhif aus Schilf. Foto: Anne Verhoijsen Am 1. November 2010 treffen wir ihn endlich an der Grenze zwischen Kuwait und Iraq. Wir, das sind Albert Veermann mit sieben Mitarbeitern, unser dreiköpfiges Filmteam und Ahmed Faraj. Die Grenze ist breit und kompliziert. Die Wagen aus Kuwait dürfen nicht weiter, wir mieten andere, nur um durchs Niemandsland zu kommen. Wir stehen herum. Anscheinend sind unsere Visa nicht eingetroffen. Neue Formulare müssen ausgefüllt werden, vor allem wird viel geredet. ›This is an oral culture‹ sagt Anne und so ist es.
Irgendwann sind die Visa doch da und wir steigen in wieder andere Autos, die einen Konvoi bilden. Vorweg und hinterher je ein Pick-up mit schwerbewaffneten Männern auf den Ladeflächen. Sie winken den Verkehr beiseite und wir jagen über eine breite vielspurige Piste durch die öde graue Wüste. Manchmal brennt am Horizont Gas aus Ölbohrungen, der Boden ist eben und teilweise von Gräben und Wällen durchzogen wie eine riesige Baustelle. Viele Checkpoints verlangsamen den gesamten Verkehr außer uns, wir folgen dem Sirenengeheul der Schwerbewaffneten durch schmale Sonderwege. An manchen Checkpoints wird unser Konvoi an andere Bewaffnete übergeben.
Dann stehen wir alle herum, die Raucher rauchen, die Soldaten sind auch Menschen mit Mobiltelefonen und so fotografieren wir uns gegenseitig Arm in Arm. Ich darf filmen, die Waffen sind erstaunlich schnell ganz beiläufig und mir wird plötzlich klar, daß ausländische Zivilisten wahrscheinlich sehr selten hier vorbeikommen, daß wir willkommene Botschafter der ›Normalität‹ sind.

Ferienparadies ›Garden Of Eden‹
An der Stadtgrenze von Al Amarah wird unsere Begleitung sehr viel weniger martialisch: nur zwei einfache Polizeiwagen begleiten uns zu unserer Unterkunft, dem noch nicht ganz fertiggestellten Ferienparadies ›Garden Of Eden‹ von Sheich Hadschi Abad.
Hinter einem Tor mit Wachposten erstreckt sich unter Palmen ein Gelände, das an drei Seiten von einer Mauer umgeben ist. Die vierte Seite ist offen, hier fließt der Tigris. Es gibt ein Bürogebäude, ein Restaurant und viele kleine Gästehäuser. Niedrige Gebäude aus Blech, die Schutzfolie ist teilweise noch nicht abgezogen, so neu ist alles. Die Stadt liegt auf der anderen Seite des Flusses, unser Gelände ist inmitten eines Neubaugebiets im Abseits, unsere Gastgeber meinen es gut, hier sind wir sicher.
Mr. Marsoomi überreicht Anne ein Paket, ihre neue Kleidung. Sie soll gleich mal probieren, das wird von jetzt an ihr Kostüm sein. Schwarzes Gewand, schwarzes Kopftuch. ›How do you feel?‹ Anne fühlt sich total unbeweglich. ›Beautifull!‹ Da sind wir also im Iraq, ganz sicher und ganz unbeweglich. An den ersten drei Tagen sind Sam und ich auf der Baustelle, das Haus wächst schnell, es gibt etwas zu sehen, wir nehmen Bilder und Töne auf. Wichtige Menschen kommen vorbei, wir erkennen ihre Position an ihrer Bewachung. Zum Schutz des Vize-Gouverneurs kommen drei gepanzerte Wagen mit den grimmigsten Soldaten, die wir dort treffen werden. Ohne Polizeischutz dürfen wir nirgends hin. Polizeischutz ist nur auf der Baustelle und im Garten Eden. Anne wird unruhig. Wir wollen in die Marshes aber Mr. Marsoomi will in das pre-fab-Haus ziehen, wenn es fertig ist. Er hat keine Zeit für uns, er muß auf der Baustelle sein. Auch Ahmed hat keine Zeit. Business. Wir suchen andere Kontakte. Keiner versteht, wer wir eigentlich sind.

Endlich im Souk
Männer einer Investment Corporation begleiten uns schließlich in die Stadt. Sie zeigen uns eine Stelle, wo wir ein tolles 5 Sterne Hotel bauen dürfen. Wir wollen aber die Stadt sehen. Sie begleiten uns in den Souk. Endlich. Geschäftiges Treiben in engen Gassen, hohe Gewölbe, die im Sommer für Kühle sorgen, Menschen sehen uns freundlich an, nichts wirkt gefährlich. Tatsächlich tragen alle Frauen schwarz. Nicht ansatzweise ein Zeichen von Auflehnung gegen die rigide Kleiderordnung, wie ich es z.B. im Iran gesehen habe, wo Kopftücher immer weiter zurückgeschoben wurden, um Grenzen auszutesten.
Auf dem Rückweg kommen wir am College vorbei. Zu lange waren wir stillgestellt und sicher eingesperrt, jetzt wollen wir jede Chance nutzen, etwas zu erleben. Wir wollen sofort das College besuchen. Irgendwie geht das auch und wir sitzen plötzlich im Büro des Direktors. Eigentlich hat er eine Sitzung und wir sind ganz unangemeldet vorbeigekommen. Aber es ist Zeit für ein Gespräch. Es ist immer Zeit für ein Gespräch. Oral culture. Wir sitzen in einem großen Raum, rundum an den Wänden sind Sessel und Sofas. Viele Menschen können hier sitzen und reden. So sieht es auch in den Privathäusern aus, in die wir kommen. Solche Räume gibt es nicht im Europäischen Styroporhaus mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Küche, Bad. Was wird sich ändern, was wird sich durchsetzen? Kommt die individuelle Kleinfamilie mit dem neuen Haus oder fordert die Großfamilie einen anderen Grundriß? Das Styroporhaus ist flexibel, es sollen sogar 12 Stockwerke möglich sein. Wird es eine Synthese geben oder eine weitere Bruchlandung des ›forced development‹?

Besuch des Art-Department
Schließlich muß der Direktor zu seiner Sitzung, wir dürfen noch das Art-Department besuchen. Das College ist ein abgeschlossener Bereich wie unser Garten Eden. Die Studentinnen und Studenten wohnen auf dem Campus. Die Studentinnen tragen zwar Kopftücher, sind aber viel farbenfroher gekleidet als die Frauen draußen. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre und wir sehen viele lachende Gesichter. Wir werden instruiert, die Frauen nicht zu fotografieren, Anne beginnt daraufhin sofort, von jedem männlichen Studenten ein Bild zu machen. Die Studentinnen wollen sich gegenseitig mit uns fotografieren und so verblaßt das Verbot irgendwie, wird unwichtig, ich darf auch filmen.
Im Art-Department werden Kunstlehrerinnen und -lehrer ausgebildet. Wir haben gesehen, wie dort aus Strohhalmen Bilder geklebt wurden, in einem Zeichensaal saß ein Model mit Kopftuch, männliche und weibliche Studenten mühten sich, ein Portrait zu zeichnen. Figuren aus Ton wurden geformt, doch es fehlte ein Ofen zum Brennen, und das hier, wo die Keramik erfunden wurde. Obwohl dies der bislang freieste, lebendigste, offenste Ort unserer Reise war, liegt etwas Hilfloses und Trauriges darüber.
Wir sind zu weit gegangen. War es der Besuch im College, der Ausbruch insgesamt oder hatte ich einen großen Fehler gemacht als ich auf der Ladefläche des Pick-up kameraschwenkend durch Al Amarah gefahren war, mit leuchtend gelb blondierten Haaren eine wunderbare Zielscheibe, falls es jemand auf einen Ausländer abgesehen hätte?

Gefangen im ›Garten Eden‹
Wir sind wieder gefangen im Garten Eden und kommen nicht am Wachtposten vorbei. Anne freundet sich mit einer Truppe an, die aus Baghdad eingeladen wurde, um hier Fontainen zu bauen. Zwischen den Blechhäusern haben sie kunstvolle Brunnen angelegt. Die betonierten Einfassungen der Becken imitieren Baumstämme, wie die Geländer im Parc des Buttes Chaumont in Paris. Aufrecht stehende Delphine spucken Fontainen, eine goldene Meerjungfrau räkelt sich auf einem Felsen. Diese Männer lieben ihr Handwerk und arbeiten mit einer Sorgfalt, die wir sonst im Umgang mit Material, z. B. auf der Baustelle, vermissen.
Dort hören Sam und ich neue Geschichten aus der oral culture: Jeder Iraqi will ein Styroporhaus. Die Preise für traditionelle Häuser stürzen ins Bodenlose. Ein Styroporhaus ist ein Drittel so teuer und in einer Woche fertig statt in zwei Jahren. Der Nachbar der Baustelle hat ausgerechnet, daß er jedem seiner drei Söhne solch ein Haus bauen kann zum Preis das sein eines gekostet hat. Die Tochter hilft der Mutter, bald wird sie heiraten und braucht kein Haus.
Der Sheich hatte uns eine Bootsfahrt auf dem Tigris versprochen. Seit zwei Tagen werden wir vertröstet. Inshallah kennen wir schon. Jetzt lernen wir ›adebbitch‹ kennen, umgangssprachlich ›step by step‹. Das Boot liegt am Ufer. Anne, Sam und ich steigen ein, ein Mann, den wir aus dem Büro des Sheich kennen, stößt ab. Er paddelt uns ein paar Meter stromaufwärts, dann wieder zurück. Am Ufer begleitet uns ein bewaffneter Mann. Das war's.

Ausgebootet
Wir können nicht anders als lachen. Natürlich: man ist besorgt um unsere Sicherheit. Aber Anne hat seit einem Jahr mit Mr. Marsoomi und Ahmed besprochen, daß wir in die Marshlands wollen. Unser Ziel ist dort und nicht im Styroporhaus. Wir sind sauer. Wir wollten länger bleiben als das Veermann- Team, ursprüngliche Wohnformen erkunden, Menschen treffen, ihr Leben verstehen, Vergleiche ziehen. Nun sind wir ausgebootet. Veermann ist abgereist. Ahmed reist morgen. Mr. Marsoomi hat Geschäfte in Istanbul und fliegt in ein paar Tagen dorthin. Wir schimpfen und versuchen, unsere Flüge umzubuchen. Wir kommen nicht in die Marshes.
Mr. Marsoomi telefoniert und plötzlich erscheint Mr. Gazan. Police for Media. Was immer das sein mag. Ein smarter Mann. Warum wurde er nicht früher informiert? Was wollen wir? In die Marshlands! Ein Mudhif sehen! ›We have rules like everywhere in the world. When a foreigner comes and wants to take pictures...‹ Wir verteidigen Mr. Marsoomi, der uns nicht bei Mr. Gazan angemeldet hat. Die oral culture lebt. Jeder wiederholt mehrmals dasselbe, Zeit vergeht. Again and again and again.

Ziegeleien auf dem Weg nach Al Amarah. Foto: AnneVerhoijsen


















Ziegeleien auf dem Weg nach Al Amarah. Foto: Anne Verhoijsen


Neue Hoffnung

Dann: OK. Forget it. - Wir schauen nach vorn. Was wollen wir in den Marshlands? Wir erzählen. ›I know exactly what you want: daily routine‹, sagt Mr. Gazan und zählt auf: ›Where do you live, what do you have for breakfeast, your children...‹ es geht on and on, ein ganzer Tagesablauf und wir verstehen, warum aus einer einfachen Frage in einer anderen Sprache eine lange Rede werden kann. Wir geben auf. Wir werden die Marshlands nie sehen. Jetzt sind sie schon kleiner als ein 10tel des ursprünglichen Gebiets, das Wasser sinkt, der Boden versalzt, jedes Jahr werden sie weniger. Wir waren ganz nah dran aber wir kommen nicht hin. Schade.
Mr. Gazan schlägt vor, daß wir seinen Chef treffen, den General der Polizei, und ihn um eine Erlaubnis fragen. Wir sind Optimisten, wir greifen jeden Strohhalm, wir sehen uns in den Marshes, wir fahren zum General.
Sofas und Sessel rundum an den Wänden. Die Tische in der Raummitte quellen über vor lauter goldenen Skulpturen und künstlichen Blumen. In einer Ecke des Raums sprudelt ein Zimmerspringbrunnen, gegenüber zeigt das Mosaik eines Bildschirms die Aufnahmen verschiedener Überwachungskameras, dazwischen der General an seinem Schreibtisch. Ein Fotograf und ein Videokameramann sind ebenfalls aktiv und ich denke: auf einen mehr kommt's auch nicht an, packe die Kamera aus. Wenn wir nicht in die Marshlands kommen, dann filmen wir wenigstens unseren Weg durch die Büros. Vielleicht erzählt das auch etwas vom aktuellen Iraq. Anne, Sam und Mr. Gazan versinken in den Polstern. Der General telefoniert. Getränke werden angeboten. Wir sind müde. Wir verstehen nichts. Der Gouverneur verbietet am Telefon unsere Exkursion. Der General bedauert. Wir sind entlassen.
In Mr. Gazans Büro dreht sich monoton der Ventilator. Mr. Marsoomi ist plötzlich aufgetaucht. Beide verschwinden genauso plötzlich. Anne schläft auf dem Sofa ein. Zettel an der Pin-Wand flattern, Kunstblumen auf dem Schrank zittern, der Computerbildschirm versinkt im Stromspar- Modus. Die Zeit vergeht. Die Marshes sind wieder unerreichbar geworden. Aber plötzlich sitzen wir wieder in einem Auto und fahren zur Residenz des Gouverneurs. Wir hatten aufgegeben, wir wollen fort. Die Flüge sind umgebucht. Da taucht eine neue Chance auf. Aber der Gouverneur empfängt uns nicht. Wir sitzen in irgendeinem Büro. Getränke. Gespräche. Oral culture. Der Assistent will ein gutes Wort für uns einlegen.

Alles falsch gemacht
Zuhause, im Büro des Sheichs, erzählen wir unsere Erlebnisse. Und erfahren, daß wir alles falsch gemacht haben. Wir hätten mit einem einzigen Mann sprechen müssen. Wir haben zu viele verschiedene eingeschaltet. Der Polizeigeneral ist in einer Partei, die mit der des Gouverneurs verfeindet ist. Wenn der für uns bittet, schadet es nur. Der Sheich allerdings ist neutral. Interveniert er für uns beim Gouverneur, freut der sich, dem Sheich einen Gefallen zu tun und dem General eins auszuwischen. Allerdings ist zur Zeit alles ungewiss: der Gouverneur wird in wenigen Tagen ausgewechselt und will sich nicht im letzten Moment Probleme aufhalsen. Wir hätten den Minister der Marshes fragen sollen, der ist zwar gerade auf der Hadj aber irgendjemand kennt seinen Bruder... Im Fernsehen sehen wir Nachrichten. Al Jazeera berichtet über die Querelen bei der Regierungsbildung in Baghdad. Nach unseren Erlebnissen verstehen wir ein wenig, warum es dort seit 8 Monaten nicht zu einer Einigung über die Regierung kommen kann.
Wir geben entmutigt auf. Ahmed wird am nächsten Morgen abreisen, wir wollen mit. Eine letzte Frage ist: wie lange eigentlich unsere Visa gelten, wir können die arabischen Zeichen nicht verstehen. Ahmed schaut in unsere Pässe und entdeckt in allen dreien einen handschriftlichen Eintrag - niemand weiß woher der kommt - offiziell abgestempelt von ganz oben in Baghdad steht dort, daß wir zur Arbeit in die Marshlands einreisen. Sofort erscheint Mr. Marsoomi, sammelt unsere Pässe ein, Ahmed reist ab und wir warten wieder optimistisch einen weiteren Tag. Am Morgen holt uns Mr. Gazan ab. Wir fahren tatsächlich in die Marshlands. Wir halten an einem Mudhif. Wir gehen hinein. Mit den Dorfältesten. Trinken Kaffee. Schlenkern die Tasse beim Zurückgeben. Bekommen Tee. Reden. Trinken mehr Tee. Reden. Trinken. Reden. Fahren weiter. Steigen in Boote. Fahren durch Schilfdickicht. Schließen die Augen.
Und als wir unsere Augen öffnen, blicken wir auf eine Wasserfläche, die in der Ferne in den Himmel übergeht. Ein Bruchteil der Marshlands aber unendlich weit und wunderschön.
Es gibt sie noch!

Thomas Bartels, 07.12.2010

http://blog.verhoijsen.com/category/ marshlands-iraq

Zuletzt aktualisiert am Dienstag, den 14. Juni 2011 um 08:55 Uhr