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International Documentary Filmfestival Amsterdam‹ (IDFA)
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Nikolaus Geyrhalter: 7915 km | Alle Fotos: IDFA

Das Festival mit 10-Tage-Programm und 300 Dokfilmen ist immer noch das umfangreichste reine Dokumentarfilmfestival der Welt. Ein Schwerpunkt der letzten Ausgabe vom 20. bis zum 30. November 2008 war der afrikanische Kontinent, der andere lag auf Indien. Afrika wurde hauptsächlich von seiner Diaspora her beleuchtet, von engagierten Filmemachern aus der Nordhälfte der Erde. Dass originäre afrikanische Filmemacher auf dem Festival Mangelware waren, ist zwar bedauerlich, aber kein Zeichen schlechter Qualität. Beim zweiten Fokus ›Indien‹ sah das ganz anders aus: Das Land feierte 2008 das 60-jährige Unabhängigkeitsjubiläum und seine weltweit bedeutende Filmindustrie spuckt Unmengen an Filmen aus. 17 davon fanden unter dem Label ›East Side Stories‹ Platz im Festivalprogramm.

Subkontinent Indien
›Parachute film making‹ nennt der renommierte Dok-Filmemacher Anand Patwardhan die Unsitte zumeist westlicher Medienteams, für kurze Zeit heuschreckenartig in ein fremdes Land einzufallen, einige Impressionen einzufangen und als seriöse Dokumentation über Land und Leute in der Heimat zu verkaufen.
Seine Landsleute gehen bei ihrer dokumentarischer Arbeit tiefer: ein immer wiederkehrendes Thema ist der Rassismus der Inder untereinander; mit dem Kastensystem und der Sortierung nach Hautfarbe oder Geschlecht sowie der immer wieder entflammenden religiösen Konflikte sind buchstäblich unter den Nägeln brennende Themen vorgegeben. In Anand Patwardhans Meilenstein Father, Son and Holy War von 1994 gibt das indische Trashfilmplakat ›The most violent film against violence‹ der Absurdität der von Patwardhan ausführlich angeprangerten vorgeblich religiösen, tatsächlich aber sozial und politisch motivierten Gewalt in Indien ein Symbol.
Rajesh Jalas aktuelles Porträt der Kinder von Unberührbaren, die als Leichenverbrenner schuften, war 2008 ein Erfolg auf Filmfestivals weltweit, ob in Leipzig, Montreal, Sao Paulo oder in Amsterdam: Children of the Pyre zeigt, dass sich wenig geändert hat trotz der Hightech-Stadtteile von Bangalore oder Hyderabad.
idfa02Exzellentes Beispiel für eine Langzeitbeobachtung ist der Wettbewerbsbeitrag King of India (Raja Hindustani). Regisseur Arvind Sinha hat 2002 bei Dreharbeiten zu einem anderen Projekt eine ›Nat‹-Familie von Straßenkünstlern und Akrobaten auf den Straßen Kalkuttas kennen gelernt. Nach vollen sechs Jahren Dreharbeiten entstand ein intimes und kraftvolles Porträt des Überlebenskampfes dieses Mikrokosmos der indischen Gesellschaft, voller überraschender Drehungen und Schicksale. Seine liebevolle Verbundenheit mit der Familie geht für Sinha so weit, dass er den Vater auf Nachfrage nie als Drogenkonsumenten denunzieren würde - eine Beobachtung, die sich dem westlichen Betrachter aufdrängt.

Der österreichische Blick
Dazu passt die Indien-Episode aus Let's make Money des Österreichers Erwin Wagenhofer ebenso wie der neueste Film des Grimme-Preisträgers Nikolaus Geyrhalter 7915 km. So lang ist die Rallye ›Paris- Dakar‹, die 2007 von Lissabon nach Dakar führte. Ihr afrikanischer Teil interessiert den jungen, mit der diesjährigen Werkschau geehrten Wiener. Kaum hat sich der Staub des hektischen Spektakels in Marokko, der Republik Sahara, Mauretanien, Mali und im Senegal gelichtet, trifft Geyrhalter die Menschen, die rechts und links der Piste leben. Das gemächliche Roadmovie macht sowohl die Distanz, als auch die Nähe der Nordafrikaner zu uns Europäern deutlich. Ein typischer Geyrhalter-Film ist diese Hommage an Menschlichkeit und Langsamkeit, die eingefahrene Wahrnehmungen in Frage stellt.

Episode 3 - ›Enjoy Poverty
idfa03Ein viel und kontrovers diskutierter Höhepunkt war der Eröffnungsfilm des Niederländers Renzo Martens: Episode 3 - ›Enjoy Poverty‹. Auf einer insgesamt zweijährigen Reise durch den Kongo fordert Martens die Einheimischen auf, ihre Armut offensiv zu verkaufen; Geld damit zu machen, was große internationale Organisationen dort wie selbstverständlich tun. Zum Beispiel unterrichtet er lokale Fotografen, selber Fotos von Gräueltaten zu schießen.
Dieses Projekt scheitert dann aber an der Nicht-Akzeptanz der Presse-Agenturen. Martens legt den Finger auf viele Wunden und bohrt nach, wenn UN-Blauhelme Bürgerkriegswüsten verlassen, um dafür Goldschürfgebiete zu sichern. Sein Programm zur Emanzipation der Einheimischen, zum aktiven Ausbeuten der reichlich verhandenen Ressource ›Armut‹ illustriert Martens mit der Neon-Installation ›Enjoy Poverty - Please‹, die im kongolesischen Busch genau wie auf einer Amsterdamer Gracht immerhin kurzzeitig in der Medienszene für Aufmerksamkeit sorgte. Auch vor der Entgleisung, einer extrem unterernährten Tagelöhnerfamilie eine nährstoffreiche Mahlzeit zu spendieren und den Vater zu unterwürfigsten Danksagungen zu bewegen, macht der ›agent provocateur‹ Martens nicht halt. Guter Geschmack ist nicht sein Ding, aber wie singt Jacques Brel im Abspann so schön: ›Wenn man nichts mehr als die Liebe besitzt, dann teilt man sie gerne...‹.

Preisträger und Info: www.idfa.nl

Wolfgang Mundt

Bild 1: Arvind Sinha: King of India
Bild 2: Renzo Martens: Episode 3 - ›Enjoy Poverty‹

Zuletzt aktualisiert am Dienstag, den 23. Februar 2010 um 12:59 Uhr