Home Rundbrief alte Ausgaben Jahrgang 2008 Locarno - Eindrücke und Einblicke
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Kinoerlebnis auf der Piazza Grande | Foto: Festival

Jedes Jahr pilgern nicht nur professionelle Filmschaffende an den Lago Maggiore, sondern auch viele Filmbegeisterte aus der Schweiz und anderen Ländern. Für 10 Tage bestimmt das Festival del film Locarno seit nunmehr 61 Jahren das Stadtbild und den Rhythmus der Stadt.
Ein besonderes Erlebnis bietet das abendliche Open Air Kino auf der Piazza Grande, auch wenn der wackelige Plastikstuhl rund 80 Meter von der Leinwand entfernt steht, weil man erst 45(!) Minuten vor Beginn der Vorstellung kam und da schon fast alle Plätze besetzt waren. Wenn dann Punkt 21.30 Uhr auf der großen Leinwand die Turmuhr erscheint, drehen sich viele Besucher um, weil sie das Original sehen wollen. Irgendwann um 21.45 Uhr beginnt dann der erste Film, der gegen 23.30 Uhr zu Ende ist.
Nun beginnt eiliges Getränke organisieren und Toiletten suchen bzw. sich an lange Schlangen anstellen. Auch ein neuer Platz kann gesucht werden, denn rund 20 % der Besucher können oder wollen sich den zweiten Film nicht anschauen, obwohl es nur eine Karte für beide Filme gibt. Ohne zu Murren zahlen also jeden Abend mindestens 1.500 von rund 8.000 Besuchern den Preis für zwei Filme, immerhin 35 Schweizer Franken, obwohl sie nur einen Film sehen.
So gegen 1.30 Uhr neigt sich dann der Open-Air-Kinoabend dem Ende entgegen, wenn nicht noch ein Spezial über die große Festivalbühne geht. So geschehen bei „Berlin Calling“, als plötzlich Paul Kalkbrenner die Bühne stürmt und das Publikum noch lange mit Elektro-Musik zum Tanzen bringt. Der Film erzählt die autobiografische Geschichte von Paul Kalkbrenner, der auch die Hauptrolle spielt und die Musik zum Film komponierte. Das nächtliche Leben in der Berliner Clubszene bringt der Regisseur Hannes Stöhr sehr dicht und authentisch auf die riesige Kinoleinwand.
Die Piazza Grande ist zwar das größte „Abend-Festivalkino“, aber auch bei Tag muss man bangen, noch einen – ebenfalls Plastik – Sitz zu bekommen. Die Wettbewerbs- Erstaufführungen finden in einem Mehrzweck-Kongressgebäude mit rund 3.000 Sitzplätzen statt, das bereits um 14 Uhr häufig von über 2.000 jungen und alten Filmenthusiasten bevölkert ist. Zeitgleich läuft der Kurzfilmwettbewerb in einer Mehrzweckhalle einer nahegelegenen Schule – ebenfalls Plastikschalensitze, eingebaute Podeste und improvisiertes Kinoambiente. Auch hier – der Saal fasst ca. 2.000 Besucher – kaum freie Plätze. Draußen tobt der Sommer und hier sitzen vielleicht 1.500 Menschen und sehen sich Kurzfilme aus China, Brasilien, Südafrika und den Philippinen an. Ein Gebäude weiter der nächste umfunktionierte Schulsaal und auch hier viele Zuschauer. Das hat mich schwer beindruckt!
Die Verantwortlichen des Festivals kennen die Stärken, aber auch die Probleme des Festivals, das nicht nur bei den Open- Air-Vorstellungen vom Wetter abhängig ist. Von Plänen, die Piazza Grande zu überdachen bis hin zum Bau eines Festivalpalais am oder im Lago Maggiore reichen die Ideen. Bei allen konkreten Schritten sollte aber bedacht werden, den Charme, die Nähe und die Unkompliziertheit des Festivals zu erhalten. Und wenn dann das Wetter mitspielt, kann man auf der Piazza nicht nur tolle Filme sondern auch noch Sternschnuppen als Zugabe sehen.

Karl Maier
Zuletzt aktualisiert am Dienstag, den 02. März 2010 um 13:57 Uhr