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Kai Reichel-Heldt: Filmfestivals in Deutschland.
Zwischen kulturpolitischen Idealen und wirtschaftlichen Realitäten.

›Es gibt jede Menge Festivals, die mit guten Leuten, ganz wenig Geld und viel Selbstausbeutung arbeiten. Die ersetzen bei uns das darniederliegende Kino.‹ Michael Kötz, Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg

›Es ist bereits Realität, dass der überwiegende Teil der Filmfestivals in Deutschland nicht durch Kulturförderung, sondern durch Eigeninitiative und die Bundesagentur für Arbeit aufrecht erhalten wird. Festivals sind nur noch mit Hilfe einer kulturindustriellen Reservearmee zu machen.‹ Lars Henrik Gass, Internationale Kurzfilmtage Oberhausen

filmfestivals Forschungsobjekt Festival
Auf diese Veröffentlichung durfte man gespannt sein. Existiert doch, zumindest nach Kenntnis des Verfassers, bisher so gut wie keine wissenschaftliche Literatur in deutscher Sprache zur kulturellen Veranstaltungsform des Filmfestivals. Selbstdarstellungen der Veranstalter und Feuilleton prägen den kulturpolitischen Diskurs.
Dies erscheint umso erstaunlicher, als in den vergangenen drei Jahrzehnten die Anzahl von Filmfestivals deutlich zugenommen hat und ihre Bedeutung und Sichtbarkeit im Kulturkalender der Städte im selben Grad gewachsen ist. Die öffentliche Aufmerksamkeit für Film als Kunstform und Kulturgut in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen wird mittlerweile entscheidend von Festivals geprägt. Bemerkenswert ist nämlich, dass die Besucherzahlen der Filmfestivals steigen, während der reguläre Kinobesuch bestenfalls stagniert. Die Ursachen für den regelrechten Festivalboom - die Angaben variieren zwischen 56 und 86 Filmfestivals jährlich - sind vielschichtig und liegen von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Die verwirklichte Forderung nach einer demokratisierten Kultur und das Bedürfnis nach selbstbestimmter Kulturarbeit dürften hier ebenso zu den Faktoren zählen wie dominante stadtpolitische Entwicklungs-, Wirtschaftsförderungs- und Marketingstrategien(1) sowie die von Kultursoziologen konstatierte Erlebnisorientierung des Publikums(2).

Warum Filmfestivals fördern?

Die vorliegende Arbeit, entstanden als Dissertation an der Universität Hildesheim, richtet sich in erster Linie an Kulturpolitiker, -förderer und Veranstalter selbst. Neben einer umfassenden Darstellung der Veranstaltungsform Filmfestival, ihrer geschichtlichen Entwicklung in beiden deutschen Staaten, ihrer vielfältigen Organisationsformen, ihrer Finanzierung, unterschiedlichen Nutzergruppen und spezifischen Sachzwänge, ist es vor allem das erklärte Ziel des Autors, ›den kulturpolitischen Sinn von Festivals zu untersuchen‹ und Kriterien zu liefern, um die ›Förderwürdigkeit von Filmfestivals <…> nach ihren kulturpolitischen Werten zu beurteilen‹ (S. 12).
Der Autor Kai Reichel-Heldt arbeitet(e) in verschiedenen Funktionen für Filmfestivals, im Eventmanagement und im Filmmarketing, ist also mit dem Untersuchungsgegenstand bestens vertraut. Auf der Grundlage seiner eigenen mehrjährigen Mitarbeit beim Internationalen Kurzfilmfestival Hamburg, von zahlreichen Festivalbesuchen und Interviews wendet er die theoretischen Befunde in drei Fallstudien an. Am besten gelingt ihm dies, wenn er aufgrund seiner Insider-Kenntnisse aus dem Nähkästchen plaudern kann. Dennoch weist die Arbeit einige Schwächen auf.
Das wichtigste Kapitel der Publikation gerät ihm leider wenig überzeugend. Unter dem Titel ›Kulturpolitische Aufgaben und Ziele von Filmfestivals‹ entwickelt Reichel- Heldt einen fünfteiligen Kriterienkatalog. Um den Anforderungen an öffentlich geförderte Kulturveranstaltungen gerecht zu werden, sollten Filmfestivals
  • Medienkompetenz vermitteln und zur ästhetischen Bildung beitragen
  • den filmproduzierenden Nachwuchs sowie
  • neue künstlerische und ästhetische Entwicklungen fördern
  • zum Erhalt einer vielfältigen lokalen Kinolandschaft beitragen, indem sie ihre Festspielstätten gezielt auswählen und
  • sich dem Gedanken einer ›nachhaltigen Entwicklung‹ widmen (S. 44ff.).

Kuratieren als Aufgabe
Die primäre kulturelle Aufgabe jedes Filmfestivals, gleich welcher Größe oder Ausrichtung, erwähnt der Autor nicht: Die Präsentation des aktuellen oder historischen Films als Kunstwerk, und zwar als Ergebnis einer kuratorischen Tätigkeit und einer qualitativen Auswahl.
Genau dies unterscheidet Filmfestivals (und Kommunale Kinos) in erster Linie vom kommerziellen Abspiel. Die bewusste Auswahl von Filmkunst bildet zugleich ihre stärkste Legitimation für die öffentliche Förderung, soll nicht nur das Aktuelle und Massentaugliche, das kommerziell Verwertbare in den Filmtheatern gezeigt werden. Dementsprechend begreift der Deutsche Städtetag die Förderung der Filmarbeit als kulturelle und eigenständige kulturpolitische Aufgabe der Stadt(3).
Es kann nur spekuliert werden, warum der Autor dieses entscheidende Kriterium nicht anführt, zumal er an anderer Stelle durchaus vor der Kommerzialisierung der Film(festival)förderung warnt, die tendenzielle Abschaffung der kulturellen Filmförderung kritisiert und eindringlich davor warnt, den wirtschaftlichen Nutzen von Festivals in den Vordergrund zu stellen.
Nachwuchsförderung, die Ausbildung von Medienkompetenz, die Beachtung von neuen Trends – all dies ist zweifellos wichtig und Bestandteil des kulturellen Aufgabenkataloges der Filmfestivals. Allerdings dürfte in vielen der 56 bis 84 Festivalorte schon sehr viel geleistet sein, wenn wenigstens einmal im Jahr andere Filmkulturen als Hollywood, wenn anspruchsvolle, ungewöhnliche, dokumentarische, kurze, experimentelle Filme im Mittelpunkt stehen, wenn überhaupt eine bewußte Auseinandersetzung mit dem Medium stattfindet.
Warum und wie die Förderwürdigkeit von Filmfestivals an der Wahl ihrer Festivalspielorte oder an ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema der nachhaltigen Entwicklung gemessen werden soll, bleibt unklar. Während die Auswahl von Spielorten überhaupt erst einmal die Existenz mehrerer Kinos voraussetzt und von allen Festivals vorrangig nach finanziellen und praktikablen Erwägungen getroffen wird, bleibt das modische Nachhaltigkeitskriterium letztlich zu unbestimmt und beliebig.

Erwartungen und Erfolge

Überzeugend gelingt es Reichel-Heldt dagegen, die sehr unterschiedlichen Ansprüche des Umfelds von Filmfestivals und ihrer verschiedenen Nutzergruppen – Fachpublikum und reguläre Besucher, Gäste, Medien, Geldgeber, Verleiher – herauszuarbeiten. Als problematisch erweist sich hier vor allem der auf den Veranstaltern lastende Druck, nicht nur von Jahr zu Jahr neue Besucherrekorde zu vermelden, sondern möglichst große Namen, Fachbesucher und Pressevertreter anzulocken und deren Ansprüche zu befriedigen – bei der großen Konkurrenz um Aufmerksamkeit ein immer schwieriger werdendes Unterfangen. ›Unsere Stars sind die Filme‹ ist von beleidigten Festivalmachern oft zu hören, wenn Journalist x mal wieder das Ausbleiben von bekannten Namen beklagt.
Zurecht weist Reichel-Heldt darauf hin, dass der Erfolg von Filmfestivals wie jeder kulturellen Veranstaltung schwer zu messen ist: ›Kreativität und der Grad kulturpolitischer Relevanz lassen sich nicht anhand von Besucherzahlen, Umsatz und Mittelrückfluß messen‹ (S. 101). Auch Pressespiegel oder Rentabilitätsanalysen seien nur bedingt aussagekräftig. Allerdings schlägt der Autor selbst keine praktikablen und gültigen Maßstäbe vor, so daß der Leser trotz ausführlicher Problematisierung des Gegenstandes eher ratlos zurückbleibt.

Fallstudien: Berlin...
Die zweite Hälfte der Studie ist den Fallbeispielen Berlin, Emden-Aurich-Norderney und Hamburg gewidmet. Die Begründung der Auswahl erscheint nicht zwingend, aber nachvollziehbar: Die Berlinale wurde als größtes, kulturell und wirtschaftlich bedeutendstes deutsches Festival ausgewählt, das Filmfest Emden steht für alle Festivals, die von einem öffentlichen Träger organisiert werden, und am Hamburger Kurzfilmfest lassen sich zum einen die Besonderheiten von Kurzfilmfestivals, zum anderen von selbstverwalteter Trägerschaft gut darstellen.
Publikums- und Medienresonanz, Starpräsenz, die Bedeutung des Filmmarktes, die forcierte Nachwuchsförderung durch den Talent Campus sowie das umfassende Programmangebot sind die Erfolgskriterien, die Reichel-Heldt an die Berlinale anlegt und die ihren unangefochtenen Spitzenplatz in Deutschland belegen. Andererseits kritisiert er völlig zurecht die wachsende Unübersichtlichkeit und mangelnde Profilschärfe des einzigen deutschen AFestivals, die unter anderem in der geringen Trennschärfe zwischen den Festivalsektionen ›Panorama‹ und ›Forum‹ zum Ausdruck kommt.

...Filmfest Emden
Aus niedersächsischer Sicht interessant ist die Darstellung des Filmfestes Emden-Aurich- Norderney, das 1990 aus einer Initiative der örtlichen Volkshochschule und des Filmclubs Emden hervorgegangen ist und seitdem von zwei festangestellten Mitarbeitern der VHS organisiert wird.
Zutreffend arbeitet Reichel-Heldt am Beispiel Emdens die Erfolgsfaktoren mittelgroßer Festivals heraus: die Publikumsorientierung des Programms und die dadurch erzielten hohen Besucherzahlen, die wichtige Profil- und Imagebildung durch Besetzung einer Programmnische – in Emden das aktuelle britische Kino – und die Einbindung prominenter Gäste und Preispaten, die kontinuierliche Unterstützung durch öffentliche Förderer, private Sponsoren und die Politik.
Letztere haben den Imagewert des Festivals für die wirtschaftsschwache Region frühzeitig erkannt. Dass die VHS sich auch ganzjährig um ein vielfältiges und qualitativ gutes Filmangebot vor Ort bemüht, dürfte ebenfalls ein wichtiger Faktor für den Besucherzuspruch des großen und beliebten Publikumsfestivals sein.
Bei der berechtigten positiven Darstellung bleibt Reichel-Heldt allerdings den Nachweis seiner These, das Filmfest Emden sei das ›wichtigste Filmfestival in Niedersachsen‹, schuldig. In seiner Konkurrenzanalyse verweist Reichel-Heldt zwar auf den verständlichen Wunsch der Festivalmacher, zum Filmfest München aufzuschließen, eine Analyse der niedersächsischen Festivallandschaft sucht man allerdings vergebens. Die anderen Festivals des Flächenlandes werden nicht einmal namentlich aufgeführt.
Als Beleg verweist der Autor lediglich auf die Festivalevaluation der nordmedia aus dem Jahr 2004, die bekanntlich mehrere Festivals positiv bewertete.
An anderer Stelle stellt der Autor dazu übrigens zurecht folgendes fest: ›Ein negatives Beispiel einer Festivalevaluation stellt die Untersuchung der niedersächsischen Filmfestivals dar, die 2003 abgeschlossen wurde. <...> Die Gesamtergebnisse wurden nicht im Einzelnen, die Besetzung der Bewertungskommission gar nicht veröffentlicht. Den teilnehmenden Festivals wurden lediglich die Entscheidungen mitgeteilt, ohne dass die Bewertungsmaßstäbe detailliert offen gelegt oder die Ergebnisse zum Vergleich zugänglich gemacht wurden. Auf Grund dieser mangelhaften Methodik bleibt ein hoher Grad an Angreifbarkeit der Ergebnisse zurück‹ (S. 175).

...und Kurzfilmfestival Hamburg
Die überzeugendste Fallstudie gelingt Reichel- Heldt beim Kurzfilmfestival Hamburg, da er sich hier nicht nur auf Interviews mit Festivalmitarbeitern oder Pressedarstellungen, sondern auf seine langjährigen praktischen Erfahrungen in so gut wie allen Arbeitsfeldern des Festivals stützt. 1985 als unabhängiges ›No Budget Kurzfilmfestival‹ gegründet, durchlebten die Organisatoren alle Entwicklungsphasen und Krisen basisdemokratischer Initiativen. Als weitsichtige Entscheidung stellte sich die Gründung eines eigenen Verleihs heraus, des Kurzfilmagentur Hamburg e.V., der seit 1993 auch das Festival trägt. Neuerwerbungen akquiriert der Verleih oft im Rahmen des Festivals, wo sie wiederum öffentlichkeitswirksam präsentiert werden können.
Obwohl programmatisch und organisatorisch eng verzahnt, sind Festivalleitung und Verleih seit 2002 durch den Druck zur Professionalisierung personell voneinander getrennt. Die Schwierigkeiten des Festivals, die Arbeitsverteilung rationaler zu organisieren und das ›charmante, aber semiprofessionelle Image‹ abzustreifen, ohne die eigenen Ideale zu negieren, sind ebenfalls Ergebnisse dieses Anpassungsdrucks und dürften vielen Festivals mit ähnlichem Hintergrund vertraut sein.

Kulturpolitischer Auftrag
Im vierten und letzten Kapitel skizziert Reichel- Heldt Ansätze für die kulturpolitische Evaluation von Filmfestivals. Zunächst sei ein einheitliches statistisches Erfassungsund Bewertungsraster zu entwickeln, das auf die jeweiligen Festivalprogramme angelegt werden könne. Im nächsten Schritt sei eine Typologisierung der Filmfestivals sinnvoll. In der anschließenden qualitativen Bewertung wäre dann sowohl individuell als auch im Vergleich mit ähnlichen Festivals zu prüfen, in welchem Maß die – welche? - kulturpolitischen Ziele erreicht wurden (S. 175ff.).
Ohne darauf an dieser Stelle näher eingehen zu können: An der Umsetzbarkeit dieses Vorschlags sind Zweifel erlaubt. Unbedingt richtig ist aber, dass angesichts der knappen öffentlichen Fördermittel die Vergabeinstanzen gehalten sind, ihre Förderentscheidungen kulturpolitisch kompetent, begründet und transparent zu treffen, während die Festivals als Förderempfänger auf der anderen Seite in der Verantwortung stehen, den Erfolg ihrer Arbeit nach denselben Kriterien unter Beweis zu stellen.
Der Mehrwert der vorliegenden Arbeit liegt darin, mit Nachdruck an den kulturellen bzw. kulturpolitischen Auftrag beider Seiten zu erinnern.

Was fehlt?
Mit Blick auf die eingangs gewählten Zitate vermißte der Verfasser einen Abschnitt zu den Arbeitsbedingungen der Festivalmacher. Schlecht bezahlte Honorarverträge und Zeitanstellungen, massenhaft unbezahlte Praktika, unbezahlte Überstunden ohne Ende sind hier eher die Regel denn die Ausnahme.
Zusammen mit der Mehrzahl der Filmschaffenden und Künstler zählen auch viele Festivalorganisatoren zur ›Avantgarde des Prekariats‹, die ungewollt an der zunehmenden Deregulierung der Arbeitsverhältnisse beteiligt ist. Eine gewerkschaftliche Interessenvertretung findet nicht statt. Anknüpfen ließe sich hier an neuere soziologische Arbeiten, die sich auch mit der Prekarisierung im Milieu der Kulturproduktion auseinandersetzen(4).
Ein großer Schwachpunkt der verdienstvollen Arbeit darf am Schluss nicht unerwähnt bleiben: ihr Stil. Zahlreiche Grammatik- und Rechtschreibfehler, unvollständige Sätze und komplizierte Satzkonstruktionen, in denen sich Autor wie Leser desöfteren hoffnungslos verirren, ein umständlicher Nominalstil und ein manchmal schwer verständlicher Marketing-Slang machen die Lektüre zu einem Hindernislauf und nicht selten zu einem Ärgernis. Ein Lektorat hat ganz offensichtlich bei dieser 39 € teuren Publikation nicht stattgefunden. Schade für eine wissenschaftliche Pionierarbeit, der eine grundlegend überarbeitete zweite Auflage und viele darauf aufbauende Forschungsarbeiten ansonsten zu wünschen ist.

1 vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel (Hrsg.), Festivalisierung der Stadtpolitik. Stadtpolitik durch große Projekte, Leviathan Sonderheft 13, Opladen 1993.
2 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/Main, 2. Auflage 2005.
3 Deutscher Städtetag 1991: Der kommunale Kulturauftrag. Eine Arbeitshilfe für die Kulturarbeit in Städten und Gemeinden, Köln.
4 Vgl. Frank Schultheis, Kristina Schulz (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz 2005.

Volker Kufahl, April 2007
Der Verfasser leitet das Internationale filmfest Braunschweig.

Frankfurt am Main 2007
(Studien zur Kulturpolitik Bd. 5, Hrsg. Wolfgang Schneider).
Verlag Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften,
211 Seiten,
39 €.
Zuletzt aktualisiert am Donnerstag, den 18. März 2010 um 14:35 Uhr