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Die Rolle der Medien beim Abbau des Sozialstaates ... PDF Drucken E-Mail
oder ›Bilder des sozialen Wandels‹ - 38. Mainzer Tage der Fernsehkritik
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Fritz Wolf, Enrico Demurray, Heiner Gatzemeier, Heike Hempel, Katja Hofem-Best. Fotos: Karl Maier

Zwei Tage stand ›Das Fernsehen als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung‹ im Mittelpunkt der Mainzer Tage der Fernsehkritik. In dem dicht gedrängten Programm mit 19 Vorträgen bzw. Gesprächsrunden blieb leider kaum Zeit für Diskussionen, die zumindest bei einigen der angesprochenen Themen durchaus wünschenswert gewesen wären. In einigen Beiträgen wurde die Brisanz des Themas deutlich, das unter dem Titel ›Bilder des sozialen Wandels‹ eher verschleiernd daher kam.
In seiner Eröffnungsrede nahm ZDF-Intendant Markus Schächter auf die aktuelle Wertedebatte bezug: ›Der Mensch als Teil der Gesellschaft ist selbst ein öffentlicher Wert.‹ Entsprechend sei auch die Gesamtgesellschaft, die öffentliche Sache ein maßgebender öffentlicher Wert. Im Sinne dieser Sache habe öffentlich-rechtliches Fernsehen zu dienen, Fragen zu beantworten und Orientierung zu organisieren. Dabei müsse das Fernsehen den ›Wandel medial beschreiben, womöglich als Breitenmedium sogar meinungsführend begleiten‹.

Medien müssen Themen setzen
Die Frage der aktiven oder eher passiven Rolle der Medien wurde im Verlauf der Tagung immer wieder angesprochen. Im Zusammenhang mit dem weit verbreiteten Unwissen vieler Menschen über die dramatischen Auswirkungen des ›demografischen Wandels‹ forderte Andreas Esche von der Bertelsmann Stiftung die Medien auf, nicht nur aktuell zu berichten.
Aus ihrer Macht entstehe für die Medien auch Verantwortung, immer wieder gesellschaftliche Themen zur Diskussion zu stellen.
Dieser Aufgabe stellen sich laut eigener Einschätzung selbstverständlich alle anwesenden Medienschaffenden. So stellte Michael Opoczynski, Leiter der ZDF-Redaktion Dokumentationen und Reportagen fest, dass Journalisten nicht unbedingt unter Kündigungsdruck leiden müssten, um sensibel über Arbeitslosigkeit berichten zu können. Er hob besonders die Serviceangebote des ZDF im Zusammenhang mit ›Hartz‹ hervor. Das von WISO entwickelte online-Modul sei hunderttausendfach abgerufen worden.
Markus Lanz, RTL-Redaktionsleiter von ›Explosiv‹, hat durch viele Beiträge ›Hartz IV‹ für seine Zielgruppe ›umgesetzt‹. Er fragte aber auch selbstkritisch in die Runde: ›Sind wir die ›Drückeberger‹, weil wir zulassen, dass es inzwischen 5,3 Mio. arbeitslose gibt?‹
Er machte aber auch auf die Zwänge aufmerksam, unter denen die Journalisten im Privaten Fernsehen täglich stehen. Sie müssten auch kritische Beiträge so präsentieren, dass die ›Quote‹ stimme. Schließlich erhielten sie jeden Morgen ein ›Zeugnis‹ über den Vortag und wenn das nicht stimme…
Dirk Bergmann Leiter der Redaktionsgruppe Wirtschaft und Ratgeber beim NDR, sieht das Fernsehen nicht als Ratgeber der Politik. Es müsse aber schwierige Zusammenhänge dem Zuschauer verständlich machen. Dafür beispielsweise habe ›Markt im Dritten‹ mit der für ein Wirtschaftsmagazin ungewöhnlichen Sendeform einer Soap über die Altersvorsorge experimentiert und positive Resonanz erhalten.

Wie sichtbar ist ›sozialer Wandel‹
medien02Mit dieser Frage beschäftigten sich die Regisseurin Sabine Derflinger aus Wien (Filme u.a. ›Vollgas‹ und ›Kleine Schwester‹), die Autorin Hannah Hollinger aus München, der Dokumentarist Peter Schran aus Köln und Dietrich Leder, Prof. an der Kunsthochschule für Medien in Köln.
Sehr eindrucksvoll und zugleich bedrückend schilderte Peter Schran die Belastungen, mit denen ein Journalist rechnen muss, wenn er die ›Wanderung durch andere Welten‹ wagt. Er arbeitet seit 1990 als TV-Reporter und Dokumentarist und hat rund 40 längere TV-Sozialdokumentationen und -Reportagen gemacht. Durch seine Spezialisierung auf Themen wie Organisierte Kriminalität, Gewaltprävention und Ethno-Konflikte lernt er Menschen näher kennen, die normalerweise nicht zum üblichen Bekanntenkreis von Medienschaffenden zählen.
Er hat festgestellt, dass die Bereitschaft von Mittelschicht-Filmteammitgliedern, sich auf Menschen am Rand der Gesellschaft einzulassen, nicht sehr ausgeprägt ist. Vielleicht sei das mit ein Grund, weshalb diese anderen Realitäten kaum in den Medien vorkämen. Schran plädierte dafür, dass sich auch Politiker ernsthaft mit diesen Menschen und Themen auseinander setzen. In der Diskussionsrunde wurde auch darüber geklagt, dass im Fernsehen längere Sendeplätze für Dokumentarfilme fehlen.
In vier bis acht Minuten könnten keine komplexen Zusammenhänge dargestellt werden.

Annäherung an neue Realitäten

Mit der Reihe ›Absolut Beginners‹ habe die Redaktion Kleines Fernsehspiel des ZDF einen Impuls auf das Thema Arbeit setzen wollen, denn unter den vielen vorgelegten Projekten habe sich kaum jemand damit befasst, berichtete Redaktionsleiterin Heike Hempel. Die neue Ausschreibung ›Agenda 2020‹ sei sehr gut angenommen worden. Es lägen hierzu rund 330 Bewerbungen vor.
Heiner Gatzemeier vom ZDF bereitet eine Doku-Fiction zum Leben im Jahr 2030 vor. Katja Hofem-Best verteidigte die ›Super Mamas‹ auf RTL 2 als wichtigen Beitrag zur Enttabuisierung der Kindererziehung. Dies sei ein gesellschaftlich hoch relevantes Thema und die vielen Anfragen von Eltern zeigten den großen Bedarf an Beratung und Unterstützung in Erziehungsfragen.
Enrico Demurray hat bei seinem Film ›Chaos im Kinderzimmer‹ festgestellt, dass es manchmal trotz der Kameras und des Filmteams ›sehr intensive Situationen‹ zwischen Kindern und Eltern gab, in denen er sich unangenehm fühlte. Durch die sorgfältige Auswahl der Aufnahmen werde allerdings sichergestellt, dass die Würde des Menschen immer gewahrt bleibe. Zuweilen müsse man auch die Protagonisten vor sich selbst schützen. Richtung RTL gab Murray zu bedenken, dass die von Super Mamas oder auch Super Nannys aufgestellten neuen Regeln oft nicht helfen, da die angebotenen Lösungen häufig nicht übertragbar seien. Viel wichtiger sind nach seiner Erfahrung Wärme und das Verständnis füreinander, vor allem in Familien mit weniger Geld.

Fernsehen und sozialer Zusammenhalt
Das Fernsehen hat die Aufgabe, soziale Probleme zu thematisieren und zu setzen. Derzeit beschäftigt man sich aber mit der Oberfläche. In vielen Sendungen, insbesondere in Talkshows sitzen immer wieder die gleichen Stellvertreter oder professionelle Selbstdarsteller, normale Bürgerinnen und Bürger kommen nicht vor. Dies ist einer der Befunde einer Studie der Uni Dortmund, die von Prof. Dr. Thomas Meyer zum Abschluss der Mainzer Tage kurz vorgestellt wurde. In Deutschland gibt es inzwischen 15 % sozial marginalisierte Menschen. Das Fernsehen sollte angesichts dieser Verhältnisse mehr an sozialer Realität mitwirken und weniger am Scheinkonsenz, so seine Aufforderung.

Karl Maier

Bild: Dietrich Leder, Sabine Derflinger, Hannah Hollinger, Peter Schran
Zuletzt aktualisiert am Donnerstag, den 01. April 2010 um 11:23 Uhr