Frederick Wiseman - Kino des Sozialen Drucken

wisemanHrsg.: Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW
Vorwerk 8 Verlag 2009
ISBN: 978-3-940384-14-0

Es sind die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen die Qualitäten der Dokumentarfilme von Frederick Wiseman nahe gebracht werden. Der Amerikaner – ursprünglich Jurist – sammelte sein Material außerhalb des Alltäglichen in der forensischen Psychiatrie, in Tierversuchslaboren, auf Schlachthöfen und Polizeiwachen, in sozialen und militärischen Einrichtungen, in der Welt des Theaters.
Das Vorgefundene nur mit der Kamera wiedergeben sagt nichts aus über die Wirklichkeit. Wiseman montiert den gedrehten Rohstoff zur erweiterten Realität, zur dokumentarischen Aussage, die ohne Kommentar auskommt. Seine Wahrnehmung ist auf Beziehungen fokussiert, die zwischen ausübender Gewalt mit ihrem Personal und den davon Betroffenen spielen – als Spiele der Macht hinter den Fassaden öffentlicher Erklärungen, hinter Türen, die uns verschlossen sind. Wiseman dringt ein in abgeschirmte Bereiche mit einer Kamera, die nicht davor zurückschreckt, was vor ihr geschieht.

Basic Training – 1971, s/w – zeigt den Drill junger Männer zu Soldaten. Etwas wird sichtbar als Prozess der Entmenschlichung – 17 Jahre vor Stanley Kubricks Spielfilm Full Metal Jacket. 1995 dann in Farbe 170 Minuten über das American Ballet Theatre, New York City – sichtbar werden eine ästhetische Abrichtung und deren bühnenwirksame Quintessenz.
Der technische Fortschritt ermöglichte Wiseman bei den Dreharbeiten die direkte Sprachaufzeichnung. Zusammen mit den bildlichen Vorgängen verstärkt der Synchronton die dramaturgische Struktur, bringt die vor der Kamera wirklich gelebte Zeit zum Ausdruck und verdichtet die gefilmte Zeit. Ton und die sowohl vor der Kamera stattfindende Musik, als auch die nachträglich hinzugefügte, motivieren den Aufbau der kommentarlosen Montage. Eine komplexe und in ihrer Wirkung mehrdeutige Arbeitsweise. Giovanna Chesler erläutert sie differenziert in ihrer Untersuchung ›Die Realität der Tonspur‹.
Die Komik in den Filmen von Wiseman ist Thema von Bert Rebhandl. Denn trotz allem gibt es komische Situationen vor der Kamera, ohne das sie aufgenommen oder geschnitten worden sind, damit sie komisch wirken. Brian Winston schildert und kommentiert Wisemans Arbeitsbedingungen in den 1970er Jahren beim amerikanischen Fernsehsender PBS, verkneift sich dabei nicht einen boshaften Seitenhieb. Ist das der neidvolle Blick eines Wissenschaftlers für Kommunikation auf einen Kreativen mit juristisch geschultem Verständnis für das, was vor und hinter den Kulissen passiert, und der in 40 Jahren mit sozialem Engagement 36 Filme gedreht hat?

Die Herausgeberin Eva Hohenberger geht im Vorspann sachlich auf die unterschiedlichen Ansätze der einzelnen Beiträge ein und ist in ihrem Eigenen u. a. den Dingen auf der Spur, die Frederick Wiseman als Autor auszeichnen. Das alles sorgfältig und eloquent zusammengefasst vor dem Hintergrund der Autorentheorie und des Direct Cinema.
Erstmals deutschsprachig aufgelegt sind diese Texte eine Reverenz vor dem einzigartigen Schaffen eines Dokumentaristen und darüber hinaus ein Handbuch zum Dokumentarfilm. Ein ausführlicher Anhang ergänzt die 12. Ausgabe der lobenswerten Reihe ›Texte zum Dokumentarfilm‹.

Filme von Frederick Wiseman über arsenal, institut für film und videokunst e.V.
www.arsenal-berlin.de

Gita Wagner

 

Zuletzt aktualisiert am Dienstag, den 09. Februar 2010 um 11:37 Uhr